Poesie der Befreiung
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Henry-Martin Klemt

 





Ausgewählt

Aus den bisher erschienenen Büchern von Henry-Martin Klemt sind hier ausgewählte Texte zu finden. 

 

Hautkontakte

 

Paris Foto: Henry-Martin Klemt


Cidre-Lied

 

Lass uns einmal noch ganz unten
auf den Stufen sitzen,
wo die Tauben uns den letzten
Krümelkeks stibitzen.
Quasimodo lässt sich von
Touristenhorden knipsen
und wir trinken Cidre,
um uns langsam zu beschwipsen.

Deine Küsse schmecken so
wie Mecklenburger Pflaumen.
Wie Rhabarber aus dem Marschland
schmeckt dein linker Daumen.
Rechts dein großer Zeh wie Spargel
vom Lebuser Lande.
Dich zu fressen wäre ein
Gourmet allein imstande.

Ich hingegen fühle mich
als echter Bohemien,
lausch verzückt und hingerissen
auf den zarten Klang
eines Ghettoblasters, der
mit allen Spatzen streitet,
während sein Besitzer einen
Sandsteinlöwen reitet.

Heimweh ist ein edles
patriotisches Empfinden,
und dein Nabel duftet
wie im Oderland die Linden.
Hinter deinen Ohren geht es
tief in den Orient,
wo der Staub von Kreuzberg
sich in meine Nüstern brennt.

Möchtest du vielleicht zu mir
jetzt in den Sattel steigen?
Hoch zu Ross lässt sich Paris
bei Nacht viel besser zeigen.
Polizisten weisen uns
den Weg mit ihren Pfeifen.
Aber du allein darfst mir
in meine Mähne greifen.

Deine Nackenhaare sind
ein kleines Nordseewunder.
Gleich dahinter riecht´s
nach wilden Schlehen und Holunder.
Wenn sich dessen Blüten
in den Eierkuchen schmiegen,
könnte ich glatt Fahrrad fahrn,
zumindest aber fliegen.

Doch viel lieber bleibe ich
hier auf den Stufen sitzen,
wo die Tauben uns den letzten
Krümelkeks stibitzen,
und wir trinken Cidre,
um uns langsam zu beschwipsen,
bis das Paradies sich öffnet
auf ein Fingerschnipsen.



Was ich will

Frau auf einer Wiese Foto: Henry-Martin Klemt


Was ich will

Für Rita

 

dass die luft nach kindheit schmeckt
und im zwielicht blinkt ein kuss
der den sternenhimmel weckt
und ich finde dich am fluss
auf der wiese ausgestreckt
leg mich dir zur seite still
das ist, was ich will
das ist, was ich will

dass uns wahrheit nicht entsetzt
so wie ein vermintes feld
über das der krieg uns hetzt
und das niemand gern bestellt
dass sie reich und unverletzt
bis zum rand die speicher füllt
das ist, was ich will
das ist, was ich will

dass im rücken sich die wand
öffnet vor dem jüngsten tag
und ich wende mich ins land
das ich hintern rippen trag
heißes wachs tropft auf die hand
und du stehst in licht gehüllt
das ist, was ich will
das ist, was ich will

dass ich tauche bis zum grund
deiner bunten augenseen
komm herauf und bin noch jung
und auch dir ist nichts geschehn
nur dein mund löscht meinen mund
und wir treten aus dem bild
das ist, was ich will
das ist, was ich will



Als wär ich schön

Mann mit Zigarettte Foto: Archiv Klemt


Ballade von der Heimkehr

meines Vaters aus dem Krieg

Für Johannes und Vera


Als mein Vater glaubte, es wär Zeit,
kroch er heimlich durch den Stacheldraht.
Rigas Trümmer warn nicht mehr verschneit.
Manche Felder trugen junge Saat.

Und er lief, wie er noch nie gelaufen
zwischen Schöneweide und Odessa,
wagte nur am Tage, zu verschnaufen,
ohne Knarre, Panzerfaust und Messer.

Frei von Tressen, frei von all dem Blech,
frei von Schuld, denn keinen traf sein Schuss,
rannte er und fand es nur gerecht,
weil man nach dem Krieg nach Hause muss.

Und er lief, wie er noch nie gelaufen
zwischen Schöneweide und Odessa,
wagte nur am Tage, zu verschnaufen,
ohne Knarre, Panzerfaust und Messer.

Wusste, wie man von der Erde frisst,
dass man nicht aus jedem Drecksloch trinkt,
wie man liegend durch die Hose pisst
und sich tot stellt, wenn ein Fremder winkt.

Und er lief, wie er noch nie gelaufen
zwischen Schöneweide und Odessa,
wagte nur am Tage, zu verschnaufen,
ohne Knarre, Panzerfaust und Messer.

War ein Dörfchen, still und abgebrannt,
einen Friedhof gab es, keinen Rauch.
An dem Platz, wo einst das Kirchlein stand,
lag nur Asche, Menschenasche auch.

Doppelkreuze standen schief im Wind,
wohl für einen Reichen auch ein Stein,
und mein Vater, voller Schorf und Grind,
grub sich bei den andern Toten ein.

Doch die Toten haben ihn verraten,
krochen aus dem Loch, als er geschlafen,
stapften fort und holten die Soldaten,
die ihn fast erfroren endlich trafen.

Was er spürte, war zuerst der Stich
eines Bajonetts ins rechte Knie,
dann den Kolbenschlag in sein Gesicht
und den Rotz, den einer auf ihn spie:

Lauf nur, lauf, wie du noch nie gelaufen
zwischen Schöneweide und Odessa.
Humpelfritz, du willst doch nicht verschnaufen?
Du kannst wählen: Kugel oder Messer!

Neunzehnneunundvierzig hält ein Zug
zwischen Trümmern einer deutschen Stadt.
Vater trägt die Stiefel, die er trug,
als der Russe ihn gefangen hatt´.

Trägt die Tschapka, die ein Russe gab,
Bücher, die ein Russe vor ihm las,
einen Rucksack, prall von Krimtabak
für vier Jahre Arbeit – gutes Maß.

Und er rannte, wie er niemals rannte
zwischen Schöneweide und Odessa,
lief durch Straßen, die er kaum erkannte:
Das wird alles neu und schön und besser!

Was er sonst noch schleppte - Vater schwieg.
Schwieg und schwieg mit einer Mordsgeduld.
Keinen hat er umgebracht im Krieg
und trug doch an jedem Toten Schuld.

Lauf jetzt, lauf, wie du noch nie gelaufen
von Odessa bis nach Schöneweide.
Wenn du einmal stirbst, kannst du verschnaufen.
Er ist tot. Ich singe für uns beide.



Wurzelland.wo

 

Sitzender Mann liest aus einem Buch vor Foto: Peter Zenker


Abendlied

Für Rita


Sagen wir noch,
zwischen den versoffenen Parolen,
dass wir lieben unser Land
und von der Küste her
Ausschau halten nach den hohen
Bergen ganz verstohlen
und uns auf den Gipfeln sehnen
nach dem weiten Meer?

Eine Zwischenwelt ist dieses
Land mit seinen Flüssen,
mit den wilden Stränden und der Vorstadtstraßenbahn,
mit dem Friedhofslärm der Vögel
und den Regengüssen,
mit dem Glotzentod, der lauert,
und dem Größenwahn.

Tief verschneite Städte und
im Schnaps erfrorne Lieder
tauen wie die Weihnachtssterne
auf von deinem Kuss.
Die geschwollnen Knöchel schmerzen,
doch mich ruft der Flieder
und ein Koppelzaun, den ich noch
überspringen muss.

Sind wir beide nicht schon
durch die ganze Welt gegangen.
Immer hörte ich der andren
Schritte hinter mir.
Wenn die langen Schatten
unsrer Toten uns umfangen
Sagte immer einer von uns beiden:
Ich bin hier!

War das Zimmer uns im milden
Licht die Kathedrale,
warn die Bücherwände uns
ein schimmernder Altar,
und wir wussten: Dieses Mal
und viele, viele Male
brennt die Kerze nieder. Aus:
Es wird schon! wird: Es war!

Wer will sagen, dass wir beide
uns umsonst geschunden.
Du hast mich empfangen heut
und ich hab dich geliebt.
Ich leck dir das Fell warm und
du leckst mir meine Wunden.
Morgen ist das Zauberwort,
das uns der Abend gibt.

Besser ist das Land und ist
die Welt heut nicht geworden.
Nicht durch die , die gingen,
und auch nicht durch die, die kamen.
Nicht durch die, die heilen,
und auch nicht durch die, die morden.
Nur die Orte wechseln
und es ändern sich die Namen.

Tausend aufgerichtet,
tausend andere zerbrochen.
Sturm kämmt unsre Eitelkeit
wie Kletten aus dem Haar.
Und kein Paradies, nicht einmal
Zukunft ist versprochen.
Alles ist wie immer und
wir sind noch immer da.

Wächst das Gras nicht weiter,
weil die Steine noch nicht singen?
Oder werden die erst singen,
wenn kein Gras mehr wächst?
Viel zu wenig wissen wir
von unsren eignen Dingen,
doch dich kenn ich besser,
als die Haut, in der du steckst.

Manchmal will ich nur
an deiner nackten Schulter lehnen.
Müde sein zu dürfen, träum ich
immer nur bei dir.
Wenn du einschläfst, schwimm ich
mit den rabenschwarzen Schwänen,
höre Franks Gitarre und
von Ludwig das Klavier.

Wir, so gut wir es verstanden…
Ach, es ist das alte
Lied, das aus dem Turm am Neckar
in die Wiesen sinkt.
Und das Land ist unter deiner
Decke nicht das kalte,
sondern eins, das unter unsren
Rippen weiter schwingt.

Wer will sagen, dass wir beide
uns umsonst geschunden?
Du hast mich empfangen heut
und ich hab dich geliebt.
Ich leck dir das Fell warm
und du leckst mir meine Wunden.
Morgen ist das Zauberwort,
das uns der Abend gibt.




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