Poesie der Befreiung
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Henry-Martin Klemt

 





Ausgewählt

Aus den bisher erschienenen Büchern von Henry-Martin Klemt sind hier ausgewählte Texte zu finden. 

 

Poesiealbum 242

 

Gesicht von Henry-Martin Klemt Foto: Rita Klemt


Januar

Für Rosa Luxemburg


Januar. Niemand zielt
auf meinen Schädel. Von innen
schlägts an die Decke, kleine
Detonationen meiner uneingelösten
Versprechen. Die alte Welt,
eine Eisscholle, driftet
in wärmere Meere
mit uns.

Januar. Die Knospen fangen
jetzt an zu treiben.
Der Sommer
spült Erschlagene, Erschossene an Land.
Wir werden noch leben. Aber die eigne
Schuld wird mich ungerecht machen.
Sei ruhig und heiter
trotz alledem.



Wegzeichen

Fenster mit Katze Foto: Henry-Martin Klemt


Notturno

Für Rita

Als du schliefest
stand ich am Fenster und sah,
wie Männer sich schlugen im Hof,
ging im Zimmer umher, klopfend,
hörtest du nicht, das uralte Zeichen.

Das Licht der Gestirne
und Schatten des Bluts
mischten sich auf dem Kissen.
Unberührbar nah
deine Schultern und Hände.

Einer von uns wird zuerst
die Sprache der Erde erlernen
mit seinem Leib. Nie
warn die Worte so müde
ihrer Verwandlung, nie

dein Herzschlag so laut.




Freiheit riecht nach Verbranntem

Parkbank im hohen Schnee Foto: Henry-Martin Klemt


Das Jahrtausend ist aus

1
Die Quader EWIG und NIE
überlasse ich denen,
die Pyramiden daraus
errichten lassen für sich.

Ich sage: Bald
ist das Jahrtausend aus
und das neue beginnt,
wie das alte endet: Zu spät.
Für mich ist das Glück
Dunkel- und Lichtjahre fern.

Doch ich liebe noch immer die gleiche Frau
und gehe noch immer in ausgetretenen Schuhn
und schlucke noch immer die tägliche Dosis
Geschwätz, und weiß nicht, wie lang halt ich's durch?

Und noch immer lockt mich das: Losziehn,
der Wüste eine Oase abzutrotzen,
dem Dschungel eine Lichtung,
dem Meer eine Insel,
ein Leben dem Tod.

2
Aber sieh dir unsere Städte an:
Der Löwenzahn lacht uns aus,
obwohl er nichts ahnt
von seiner Vollkommenheit.

Die Evolution kichert
über unseren Eifer, Neues,
immer Neues zu schaffen, nur
damit wir nicht altern, und wenn
wir alt sind, das Alte zu preisen
als die letzte große Entdeckung.

Sieh dir das Land an:
Zusammengepreßte Böden. Wälder,
krank vom Atem der Industrie. Wasser,
stinkend von Fortschritt. Und nichts
kommt mehr ohne uns aus. Das
ist unser Verdienst, daß wir Sonnen
an den Himmel nageln können,
selbst Gene ummodeln, bis sie
unserer Freßsucht genügen.

Und ich seh meine Brüder verhungern
im Schatten der Kosmodrome,
seh meine Schwestern gesteinigt
im heiligen wie im heillosen Land!

Ich kann nicht fort aus meinem Jahrtausend
der Kurzschwerter, Langstreckenbomber,
Münzen und Massaker, weil es
in meinen Adern fließt, wie das Blut
aller Fahnen. Jahrtausend
der Teilchenbeschleuniger,
Bärentöter und Gaskammerspezialisten.

3
Aber schön ist es, wenn sich ein Mensch
im Weltall bewegt, ein Gewehr
an einem Baumstamm zerbricht,
wenn der Geschützlärm verstummt,
aus den Bergen Rebellen heimkehrn
ins Dorf, um ihr Feld zu bestelln.

Schön sind die Mädchen Managuas,
wenn sie das Koppel lockern und tanzen,
schön ist die Hand des Mannes,
die den Schlag verweigert
in das Gesicht seiner Frau,
die Kinder sind schön,
die in Addis Abeba die Scheiben
der Landrover putzen. Doch jede
Heimat wird zum Exil,
wenn man nicht fortgehen kann.

4
An einem Tag, wie reife Ähren gelb,
an einem Tag, wie Kornblumen blau,
an einem Tag ohne Flutwelle, Erdbeben,
Flugzeugabsturz und Reaktorunfall,
an einem Tag ohne Gummiknüppel,
ohne Tränengas und elektrische Stühle,
an einem Tag, der die Menschheit nicht spaltet
in Neger, Juden, Schwule, Lesben und solche,
die Recht haben, an so einem Tag
beginnt das dritte Jahrtausend,
von dem wir nichts wissen,
als daß es beginnt.

1989




Menschenherz

Hausfassade am Platz der vollkommenen Liebe in Genua Foto: Henry-Martin Klemt


Romantische Ballade

Für B.

An einem Wintertag nach beinah zwanzig Jahren
fuhr er zu ihr, als wäre nie etwas geschehn.
Sie lachte, sprach, wie damals, als sie siebzehn waren,
und ihr Gesicht – er konnte sich nicht satt dran sehn.

Es wurde später. Ihre Kinder gingen schlafen.
Sie stellte Kerzen auf den Tisch und holte Wein.
Er sah sie vor sich, so wie sie sich damals trafen.
Dann warn sie still und jeder trank für sich allein.

Er sah die Männer vor sich, die sie später hatte,
und im Regal sah er das Bild von einem Mann.
Sein Herz schlug härter und die Welt versank in Watte.
Nur einer fehlte ihr zum Glück von Anfang an.

So wie es schneit, wär es wohl besser, hier zu bleiben,
sah er sie sagen. Warum hörte er sie nicht?
Die Flocken schlugen krachend an die Fensterscheiben,
wie weiße Falter auf der Suche nach dem Licht.

Er hatte Lust, sie einfach in den Arm zu nehmen,
mit ihr zu tanzen, sie zu vögeln, bis sie schrie,
und dachte, während er sich schämte: Warum schämen
für einen Traum, der so lang leben wird wie sie?

Wie damals sah er sich an ihrem Fenster stehen
und sah sie hinter sich, nicht schlafend und nicht wach.
Was nicht geschehn war, würde niemals mehr geschehen.
Die letzte Bahn zerschnitt das schwarze Tuch der Nacht.

Sie geht hinaus, bringt ihm die Decke und ein Kissen.
Ist sie es wirklich, oder ist es seine Frau?
Und ist die Liebe etwas andres als Gewissen
und daß mir der vertraut, dem ich mich anvertrau?

Auf ihrer Couch nochmal von seinem Traum zu träumen,
das ist, als müßte er sich selbst vor ihr kastriern.
Und schlimmer noch, als diese Nacht mit ihr versäumen,
scheint ihm, das Bild, das alte, tote, zu berührn.

Er möchte fort sein oder einfach um sich schlagen.
Er sieht den Kerzendocht, wie er im Wachs verglüht,
und will jetzt aufstehn oder irgendetwas sagen.
Doch ob er das noch kann, weiß nicht einmal mein Lied.




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