Dreißig Jahre sind vergangen. Die Volksdemokratische Republik Äthiopien gibt es nicht mehr. Die Deutsche Demokratische Republik ist der Bundesrepublik Deutschland beigetreten. Verschwunden sind auch die Dörfer, in denen wir lebten, und die Staatsfarmen, auf denen wir während der Erntekampagne 1987 halfen. Sie waren ein Teil des landwirtschaftlichen Programms der Militärregierung von Mengistu Haile Mariam in einem Land, in dem trotz internationaler Hilfe drei Millionen Menschen akut vom Hungertod bedroht waren. Auch heute gehört Äthiopien zu den ärmsten Ländern der Erde, aber die Dörfer und Farmen sind geschleift. Wir, das war die neunte Brigade der Freundschaft Werner Lamberz der Freien Deutschen Jugend. Was dazu an Unterlagen existierte, wurde seinerzeit – so hat man es mir berichtet – wendeeifrig in den Innenhof des Zentralrates der FDJ entsorgt, wie Berge anderer Dokumente. So ist außer den persönlichen Erinnerungen nichts geblieben, was Zeugnis legen könnte von den sechsundachtzig Tagen im Hochland Äthiopiens. Wir, das war ein gutes Dutzend junger Arbeiter und Ingenieure, ein Brigadier, ein Dolmetscher und ein Schriftsteller. Es war ein Luxus, den die Deutsche Demokratische Republik, den der Zentralrat der Freien Deutschen Jugend sich leistete: Dort, wo Internationalismus gelebt, Solidarität geübt wurde, schickte der Jugendverband auch Künstler hin: Musiker, bildende Künstler, Schreibende. Es war ein Gewinn für alle. Die Spezialisten vor Ort lernten auf diese Weise die Arbeit von Kunstschaffenden kennen, denn nicht selten waren solche Reisen begleitet von Konzerten, Ausstellungen, Lesungen. Die Kreativität rieb sich an der oft harten körperlichen Arbeit und den Protagonisten der großen Jugendobjekte. Aus Weltansage wurde für Arbeiter wie Künstler durch solche Aufenthalte Weltanschauung. Rauskommen aus der Deutschen Demokratischen Republik war neugierigen Menschen ein Wert an sich, für den sie manche Unbequemlichkeit gern in Kauf nahmen. Die Aussicht, einen schmalen Teil ihres Budgets in Devisen transferieren zu können, spielte als Motiv ebenfalls eine Rolle, wenn auch eine weniger vordergründige, als vielleicht vermutet. Bedingung für die Mitgliedschaft in der FDJ-Freundschaftsbrigade Werner Lamberz war, daß ich selbst Teil der Brigade bin, dass ich ebenso wie die Landmaschinenschlosser und Ingenieure mitarbeite. Auch wenn es zuweilen möglich gewesen wäre, verbot ich mir selbst jede Sonderrolle, jedes Privileg. Die einzige Ausnahme bestand darin, daß ich nachts am Tisch sitzen und bei Kerzen- oder Taschenlampenlicht meine Tagebücher schreiben und, wenn ich damit ins Hintertreffen geriet, meinen freien Tag in der Woche vorziehen durfte. Ansonsten war ich ein Hilfsarbeiter, dem frühere polytechnische Bildung, ein technischer Beruf und die Vertrautheit mit größeren Fahrzeugen zu Gute kamen, aber auch manche Reisen, die ich bereits absolviert hatte – an die Erdgastrasse in der Sowjetunion, nach Rumänien und Algerien. Es machte mir nichts aus, Klingen am Schneidwerk eines Mähdreschers E 512 zu nieten, Bremsen zu zerlegen, Werkzeug zuzureichen. Und es machte mir auch nichts aus, wenn es trotzdem Pannen dabei gab und die Kumpel mich zu ihrem „schreibenden Vorkommnis“ ernannten. Ich habe mit ihnen die Bergfestzeitung gebastelt und habe ein Dutzend Gedichte geschrieben, die später in der Tageszeitung der FDJ Junge Welt veröffentlicht wurden. Das war ja der Hintersinn des Auftrags, daß Musiker, Maler und Autoren inspiriert zurückkämen von solcher Reise, dass sie jenen, mit denen sie geschuftet hatten, ein Denkmal setzten oder besser: daß sie dem, was wir gemeinsam zu bewegen versuchten, Dauer zu verleihen halfen. So ungeschönt und authentisch allerdings, wie es auf diesen 270 Seiten nun vorliegt, sollte es dann doch nicht sein. Es sollten, sagen wir einmal, alle gut wegkommen dabei und am besten der Sozialismus in der DDR wie in Äthiopien. Aber dazu ist das Leben zu kompliziert. Nur, wenn die Wahrheit gut wegkommt, haben wir auch selber eine Chance, daß das Urteil über uns gerecht ausfällt. Ich wollte die Wahrheit schreiben und habe das, so gut ich es konnte, getan. Niemand hat mir hereingeredet dabei. Es hat mich auch niemand mit Mißtrauen geplagt oder sich selbst das Maul verboten aus Sorge, etwas Falsches zu sagen. Wir waren alle, bis auf den Brigadier, zwischen Anfang 20 und Anfang 30. Diejenigen, die zum ersten Mal nach Äthiopien kamen, begegneten nicht nur einer fremden, überwältigenden Landschaft, sondern auch einer fremden Kultur. Sie erlebten nicht nur Gastfreundschaft und Herzlichkeit, sondern auch Lebensverhältnisse, die oft kaum zu verstehen und nicht auf Anhieb zu bewältigen waren. Was wir vorfanden, legte den Schluß nahe, daß es vielleicht gar nichts würde mit dem Ethiopa Tikdem – Äthiopien voran, so vom Feudalismus zum Sozialismus springend. Und bei dem, was wir an den Füßen mitschleppten, der eigenen Heimat, meldete zwar niemand laute Zweifel an, aber wie tief sich Opportunismus und Resignation schon bei den jungen Leuten gefressen hatten, auch wenn sie selbst oft in mehreren gesellschaftlichen Funktionen tätig waren, das ließ sich schlecht übersehen. Wie weit Ideologie und Leben auseinanderklafften und wie schwer es war, diese Kluft im Alltag zu überwinden, das war an den Ufern der Saale so deutlich, wie an denen des Wabe Shebele. Ich kam nach diesem viertel Jahr anders nach Hause, als ich mich auf den Weg gemacht hatte. Ich war voller Eindrücke von Landschaften, Menschen, Lebensgeschichten, von Aufbrüchen und Hindernissen. Zugleich war ich um manche Illusion ärmer, die die Deutsche Demokratische Republik betraf, aber auch den Aufeinanderprall von Zeitaltern und Kulturen. Ich hatte aber auch, indem ich Verantwortung übernahm, mehr von der Verantwortung erfahren, die wir füreinander haben, in einer Brigade und in der globalisierten Welt. Das, glaube ich, ist es auch, was dieses Buch aktuell macht. Es ist ja kaum ein Wimpernschlag Historie seitdem vergangen. Keiner der sozialen Gegensätze ist überwunden, im Gegenteil, die Schere zwischen Arm und Reich klafft weiter auf denn je. Es gibt den verinnerlichten Alltagsrassismus, nicht nur in Deutschland, aber auch hier, der sich schwer aufbrechen lässt, und der für sein Vorurteil immer Nahrung findet, wenn er danach sucht. Nicht alle in der Brigade habe ich in gleicher Weise respektiert. Einige sind mir rasch ans Herz gewachsen. Zu anderen wahrte ich eine instinktive Distanz. Manche wurden mir fremder, je besser ich sie kennen lernte. Aber ich habe jeden von ihnen gemocht. Ich habe keinen gefunden, der nicht seine guten Seiten gehabt hätte, seine Stärken, seine liebenswerten Eigenheiten. Wer unter fremden Himmeln 24 Stunden am Tag zusammen arbeitet, ißt, trinkt, die Freizeit verbringt, der wird für seine Weggefährten lesbar, auch wenn er das nicht will oder sich bemüht, eine Rolle zu spielen. Die meisten haben das gar nicht versucht. Und wo sie sich, äußeren Drücken geschuldet, dazu gezwungen fühlten, war ich wütend – aber zum Wenigsten auf sie. Ja, sie verdienen, dass man sich ihrer erinnert. Denn sie waren auch die mit dem guten Glauben und den festen Vorsätzen; sie hatten viel zu verteidigen und ich hoffe, dass es jedem von ihnen gelungen ist, so gut es ging.
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